„Es zählt jeder Cent“
Der Verein Hilfe für Nachbarn besteht seit zehn Jahren. Die Vorstände Dr. Jürgen Müller und Dr. Martin Faber ziehen im Interview der Neuen Presse eine Bilanz. Ohne Spender wäre die Unterstützung von Hilfsbedürftigen nicht möglich.


Herr Müller, Herr Faber, vor zehn Jahren ist der Verein „Hilfe für Nachbarn Coburg e. V.“ gegründet worden. War das aus heutiger Sicht eine richtige Initiative?
Martin Faber: Ganz klar ja. Die Idee zu Hilfe für Nachbarn wurde an uns als Sparkasse von der Neuen Presse herangetragen. Ihr Ziel war und ist es, Menschen zu helfen, die aufgrund ihres geringen Einkommens nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen.
Wie verlief die Entwicklung?
Können Sie dazu Zahlen nennen?
Faber: Über 1500 Hilfsempfänger haben seit der Vereinsgründung finanzielle Unterstützungen erhalten. Pro Jahr helfen wir rund 150 Einzelpersonen oder Familien aus individuellen Notlagen. Das zeigt deutlich, dass diese Initiative richtig war. Denn trotz umfassender sozialer Sicherungssysteme und zahlreicher individueller Hilfsangebote vor Ort bleiben oftmals Lücken, die zu persönlichen Notlagen führen.
Wer brauchte „Hilfe für Nachbarn“ in der Vergangenheit, wer braucht den Verein heute?
Jürgen Müller: Von Beginn an unterstützen wir Menschen aus der Region, die unverschuldet in eine vorübergehende Notlage geraten sind. 2011 ist Hilfe für Nachbarn ganz bescheiden gestartet: 38 Antragsteller erhielten damals finanzielle Leistungen über knapp 3500 Euro. Die Verwendung reichte von der warmen Mahlzeit in der Schule bis zur Abwendung von Stromsperren.
Hat sich das verändert?
Müller: Ein Blick zurück macht deutlich, dass sich an den grundsätzlichen Problemlagen, aufgrund derer sich Menschen an uns wenden, relativ wenig geändert hat. Häufig sind es Alleinstehende. Immer wieder geht es um Kinder, für die die Mittel für Bildung, Freizeit, Förderung und Betreuung fehlen. Wenn in einem finanziell angespannten familiären Umfeld dann noch Haushaltsgeräte wie Elektroherd oder Waschmaschine kaputtgehen, fehlen oft entsprechende Rücklagen. Wir ermöglichen aber auch Unterstützungen zur Überbrückung besonderer Lebensumstände durch Krankheit, Trennung oder bei Trauerfällen und helfen Wohnungslosen und Senioren. Auch Fahrtkosten werden übernommen und andere kurzfristige Hilfen, die erforderlich sind, weil unter Umständen staatliche Leistungen noch nicht oder gar nicht greifen.
Lässt sich etwas über die Altersgruppen sagen, die Hilfe benötigen?
Müller: Ja, zunächst wurden Hilfen vor allem von Personen jüngeren Alters bis 25 Jahre in Anspruch genommen. Mittlerweile sind die meisten Hilfsempfänger zwischen 30 und 55 Jahre alt. In den letzten Jahren verzeichnen wir eine Zunahme von Personen, die Hilfen benötigen obwohl sie Grundsicherungsleistung bekommen oder trotz Arbeit ihr geringes Einkommen „aufstocken“ müssen. Alleinstehende nehmen die Hilfen nach wie vor am weitaus häufigsten in Anspruch. Gerade Senioren sind hier oft betroffen, allerdings nehmen Menschen im arbeitsfähigen Alter die meisten Hilfen in Anspruch.
Was hat der Verein in den vergangenen zehn Jahren leisten können?
Faber: Seit Gründung unseres Vereins haben wir finanzielle Hilfen in Höhe von mehr als 400 000 Euro ausgereicht. Zwischen 150 und 180 Anträge erhalten wir mittlerweile pro Jahr. Fast immer können wir schnell und unbürokratisch Hilfe leisten und dringend benötigte finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. In insgesamt 1504 Fällen haben wir bisher geholfen.
Über welche Beträge sprechen wir dabei?
Müller: Die durchschnittliche Fördersumme ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Waren es anfangs noch knapp 100 Euro pro Antrag, so fließen mittlerweile im Durchschnitt über 430 Euro an die Hilfsempfänger. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass in den vergangenen Jahren der Bedarf an Haushaltsgeräten und Möbeln stark gestiegen ist.
Wer hat dafür die Voraussetzungen geschaffen, dass „Hilfe für Nachbarn“ finanzielle Unterstützung leisten kann?
Faber: Dass wir in diesem Umfang tätig werden können, verdankt der Verein den zahlreichen Spenderinnen und Spendern aus der Region. Gefördert wird unser Engagement in der Stadt und im Landkreis Coburg von zahlreichen Privatpersonen, aber auch von Firmen und Institutionen. Haben sie im Gründungsjahr 2011 noch rund 25 000 Euro gegeben, waren es 2020 insgesamt über 82 000 Euro. Dafür sind wir unendlich dankbar – besonders all denen, die uns regelmäßig auch mit kleinen Beträgen unterstützen, Aktionen starten beziehungsweise zu den verschiedensten Anlässen Geld zugunsten Hilfe für Nachbarn sammeln. Denn nicht nur die Höhe der Spendensumme ist entscheidend, sondern die Bereitschaft, Hilfe zu leisten und Menschen aus Stadt und Landkreis Coburg, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind, zu unterstützen. Da zählt jeder Cent.
Welche Bedeutung kommt den Partnern BRK, ASB, Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie Coburg sowie Stadt und Landkreis Coburg zu?
Müller: Unsere Partner – Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund sowie die Sozialämter von Stadt und Landkreis Coburg – leisten eine unverzichtbare Arbeit bei der Beurteilung der Hilfsanfragen. Sie bereiten die Anträge und Unterlagen für die Beschlussfassung durch den Vorstand vor; außerdem verfügen unsere Partner in einem bestimmten finanziellen Rahmen über die Möglichkeit, Sofortentscheidungen über Hilfsanträge zu treffen. Durch das bei unseren Partnern gebündelte sozialpädagogische, sozialrechtliche und kaufmännische Know-how sind diese in der Lage, den tatsächlichen Hilfsbedarf im Einzelfall kompetent zu prüfen und somit die zweckmäßige Verwendung der Spendengelder sicherzustellen.
Gab es bei der Förderung, die „Hilfe für Nachbarn“ zuteil geworden ist, Besonderheiten?
Wie ist die Akzeptanz des Vereins in der Bevölkerung?
Hat der Verein Verwaltungskosten?
Faber: Für alle, die unseren Verein unterstützen, ist es besonders wichtig, dass die Spendengelder vollständig für Hilfsleistungen zur Verfügung gestellt werden. Das ist dadurch sichergestellt, dass alle beteiligten Partner dieses Projekt von Anfang an ehrenamtlich begleiten.
Herr Müller, Siegfried Wölki war Gründungsvorsitzender, Sie sind sein Nachfolger geworden. Was war Ihr Beweggrund, dieses verantwortungsvolle Amt zu übernehmen?
Müller: Diese Frage ist einfach zu beantworten. Ich wurde bei Gründung des Vereins bereits zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Ich war und bin von der Idee zu Hilfe für Nachbarn begeistert. An der Verwirklichung dieser Idee mitzuwirken, macht mir große Freude!
Gibt es einen Fall, der Sie emotional besonders bewegt hat?
Müller: Das ist der Fall einer Rentnerin aus dem Coburger Land, die stark verwahrlost und unterernährt in ihrer Wohnung gefunden wurde. Nach dem Auffinden kümmerte sich eine Betreuerin um die Rentnerin; diese hat unverzüglich den Umzug in ein Pflegeheim in der Vestestadt veranlasst. Eine Aufstockung der Heimkosten erfolgte durch den Bezirk Oberfranken. Für das Wohnen im Heim benötigte die Rentnerin jedoch eine Grundausstattung in Form von Kleidung, Schuhen, Medikamenten und Körperpflegeartikel. Diese Grundausstattung wurde von Hilfe für Nachbarn übernommen und ein weiterer Grundbedarf durch eine weitere Zuwendung gedeckt.
Ist „Hilfe für Nachbarn“ auch künftig notwendig?
Faber: Im sozialen Netz in Deutschland, das enger geknüpft wird, wird es immer Löcher geben, um im Bild des Netzes zu bleiben. Wer staatliche Hilfen in Anspruch nehmen möchte, braucht Zeit und muss – je nach Form der Hilfe – ein mehr oder weniger aufwendiges Antragsverfahren durchlaufen. Das führt immer wieder zu Situationen, in denen die Hilfen zu spät ankommen oder sogar gänzlich verwehrt werden. Hier setzt ganz klar die Unterstützung durch unseren Verein an – ohne komplizierte Formulare und langwierige Verfahren – einfach, schnell und unbürokratisch.
Hat die Corona-Pandemie die Arbeit von „Hilfe für Nachbarn“ verändert?
Faber: 2020 war auch für unseren Verein ein besonderes Jahr. Der direkte Kontakt der Hilfsempfänger zu den Wohlfahrtsverbänden und Jugendämtern war durch den coronabedingten Lockdown über längere Zeit nicht möglich. Das erprobte, unbürokratische und unkomplizierte Verfahren zur Antragsstellung hat trotzdem passgenaue Hilfen zugelassen. So konnte vielfach auf den persönlichen Kontakt verzichtet werden, aber via Telefon, E-Mail oder per Post alles Notwendige erledigt werden. Erst im Sommer/Herbst 2020 konnte wieder eine Zunahme an persönlichen Kontakten verzeichnet werden. Die Bedarfe, so zeigte sich, waren oft genauso wie in den vielen Jahren zuvor. Manchmal jedoch verschärfte die Pandemie die Einzelsituation sogar noch, sodass die Hilfe umso notwendiger war.
Welche Ziele setzt sich „Hilfe für Nachbarn“ für die Zukunft?