„Es zählt jeder Cent“

Der Verein Hilfe für Nachbarn besteht seit zehn Jahren. Die Vorstände Dr. Jürgen Müller und Dr. Martin Faber ziehen im Interview der Neuen Presse eine Bilanz. Ohne Spender wäre die Unterstützung von Hilfsbedürftigen nicht möglich.

Dr. Jürgen Müller
Dr. Martin Faber

Herr Müller, Herr Faber, vor zehn Jahren ist der Verein „Hilfe für Nachbarn Coburg e. V.“ gegründet worden. War das aus heutiger Sicht eine richtige Initiative?

Martin Faber: Ganz klar ja. Die Idee zu Hilfe für Nachbarn wurde an uns als Sparkasse von der Neuen Presse herangetragen. Ihr Ziel war und ist es, Menschen zu helfen, die aufgrund ihres geringen Einkommens nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen.

Wie verlief die Entwicklung?

Faber: Eine gemeinnützige Spendenaktion, die schnell und unbürokratisch Hilfe leistet, wenn jemand in eine Krise gerät, fand auch in Coburg rasch Anklang. So konnte der Verein am 23. Mai 2011 gemeinsam mit der Stadt und mit dem Landkreis Coburg, dem Diakonischen Werk Coburg, der Arbeiterwohlfahrt Coburg, dem Caritasverband für die Stadt und den Landkreis Coburg, dem ASB-Regionalverband Coburg und dem BRK-Kreisverband Coburg gegründet werden. Das Hauptaugenmerk lag vor allem darauf, Not in unserer Region, vor unserer Haustür, schnell und unbürokratisch zu lindern.

 

Können Sie dazu Zahlen nennen?

Faber: Über 1500 Hilfsempfänger haben seit der Vereinsgründung finanzielle Unterstützungen erhalten. Pro Jahr helfen wir rund 150 Einzelpersonen oder Familien aus individuellen Notlagen. Das zeigt deutlich, dass diese Initiative richtig war. Denn trotz umfassender sozialer Sicherungssysteme und zahlreicher individueller Hilfsangebote vor Ort bleiben oftmals Lücken, die zu persönlichen Notlagen führen.

Wer brauchte „Hilfe für Nachbarn“ in der Vergangenheit, wer braucht den Verein heute?

Jürgen Müller: Von Beginn an unterstützen wir Menschen aus der Region, die unverschuldet in eine vorübergehende Notlage geraten sind. 2011 ist Hilfe für Nachbarn ganz bescheiden gestartet: 38 Antragsteller erhielten damals finanzielle Leistungen über knapp 3500 Euro. Die Verwendung reichte von der warmen Mahlzeit in der Schule bis zur Abwendung von Stromsperren.

Hat sich das verändert?

Müller: Ein Blick zurück macht deutlich, dass sich an den grundsätzlichen Problemlagen, aufgrund derer sich Menschen an uns wenden, relativ wenig geändert hat. Häufig sind es Alleinstehende. Immer wieder geht es um Kinder, für die die Mittel für Bildung, Freizeit, Förderung und Betreuung fehlen. Wenn in einem finanziell angespannten familiären Umfeld dann noch Haushaltsgeräte wie Elektroherd oder Waschmaschine kaputtgehen, fehlen oft entsprechende Rücklagen. Wir ermöglichen aber auch Unterstützungen zur Überbrückung besonderer Lebensumstände durch Krankheit, Trennung oder bei Trauerfällen und helfen Wohnungslosen und Senioren. Auch Fahrtkosten werden übernommen und andere kurzfristige Hilfen, die erforderlich sind, weil unter Umständen staatliche Leistungen noch nicht oder gar nicht greifen.

Lässt sich etwas über die Altersgruppen sagen, die Hilfe benötigen?

Müller: Ja, zunächst wurden Hilfen vor allem von Personen jüngeren Alters bis 25 Jahre in Anspruch genommen. Mittlerweile sind die meisten Hilfsempfänger zwischen 30 und 55 Jahre alt. In den letzten Jahren verzeichnen wir eine Zunahme von Personen, die Hilfen benötigen obwohl sie Grundsicherungsleistung bekommen oder trotz Arbeit ihr geringes Einkommen „aufstocken“ müssen. Alleinstehende nehmen die Hilfen nach wie vor am weitaus häufigsten in Anspruch. Gerade Senioren sind hier oft betroffen, allerdings nehmen Menschen im arbeitsfähigen Alter die meisten Hilfen in Anspruch.

Was hat der Verein in den vergangenen zehn Jahren leisten können?

Faber: Seit Gründung unseres Vereins haben wir finanzielle Hilfen in Höhe von mehr als 400 000 Euro ausgereicht. Zwischen 150 und 180 Anträge erhalten wir mittlerweile pro Jahr. Fast immer können wir schnell und unbürokratisch Hilfe leisten und dringend benötigte finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. In insgesamt 1504 Fällen haben wir bisher geholfen.

Über welche Beträge sprechen wir dabei?

Müller: Die durchschnittliche Fördersumme ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Waren es anfangs noch knapp 100 Euro pro Antrag, so fließen mittlerweile im Durchschnitt über 430 Euro an die Hilfsempfänger. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass in den vergangenen Jahren der Bedarf an Haushaltsgeräten und Möbeln stark gestiegen ist.

Wer hat dafür die Voraussetzungen geschaffen, dass „Hilfe für Nachbarn“ finanzielle Unterstützung leisten kann?

Faber: Dass wir in diesem Umfang tätig werden können, verdankt der Verein den zahlreichen Spenderinnen und Spendern aus der Region. Gefördert wird unser Engagement in der Stadt und im Landkreis Coburg von zahlreichen Privatpersonen, aber auch von Firmen und Institutionen. Haben sie im Gründungsjahr 2011 noch rund 25 000 Euro gegeben, waren es 2020 insgesamt über 82 000 Euro. Dafür sind wir unendlich dankbar –  besonders all denen, die uns regelmäßig auch mit kleinen Beträgen unterstützen, Aktionen starten beziehungsweise zu den verschiedensten Anlässen Geld zugunsten Hilfe für Nachbarn sammeln. Denn nicht nur die Höhe der Spendensumme ist entscheidend, sondern die Bereitschaft, Hilfe zu leisten und Menschen aus Stadt und Landkreis Coburg, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind, zu unterstützen. Da zählt jeder Cent.

Welche Bedeutung kommt den Partnern BRK, ASB, Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie Coburg sowie Stadt und Landkreis Coburg zu?

Müller: Unsere Partner – Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund sowie die Sozialämter von Stadt und Landkreis Coburg –  leisten eine unverzichtbare Arbeit bei der Beurteilung der Hilfsanfragen. Sie bereiten die Anträge und Unterlagen für die Beschlussfassung durch den Vorstand vor; außerdem verfügen unsere Partner in einem bestimmten finanziellen Rahmen über die Möglichkeit, Sofortentscheidungen über Hilfsanträge zu treffen. Durch das bei unseren Partnern gebündelte sozialpädagogische, sozialrechtliche und kaufmännische Know-how sind diese in der Lage, den tatsächlichen Hilfsbedarf im Einzelfall kompetent zu prüfen und somit die zweckmäßige Verwendung der Spendengelder sicherzustellen.

Gab es bei der Förderung, die „Hilfe für Nachbarn“ zuteil geworden ist, Besonderheiten?

Faber: Jede Förderung, die uns zuteil wird, ist für uns etwas Besonderes. Überrascht sind wir immer wieder über die Aktionen, die zugunsten Hilfe für Nachbarn gestartet werden. Dafür sind wir den Initiatoren zu großem Dank verpflichtet. Es gab schon Benefizkonzerte, Sammlungen zu Geburtstagen, Spenden anstelle von Weihnachtsgeschenken, Sportwettbewerbe und kulturelle Veranstaltungen, aber auch Verkaufsaktionen oder es wurden Spendendosen aufgestellt. 2017 passierte allerdings wirklich etwas ganz Besonderes: Eine Privatperson aus Coburg hat in der Stiftergemeinschaft der Sparkasse eine Stiftung zugunsten von Hilfe für Nachbarn ins Leben gerufen. Diese großzügige Initiative fördert unsere Arbeit dauerhaft, denn die Erträge dieser mit 100 000 Euro dotierten Stiftung fließen unserem Verein jährlich zu und stehen somit für Hilfen zur Verfügung. Andere Stifter folgten diesem Beispiel und wählten unseren Verein als begünstigte Institution ihrer eigenen Stiftung aus.
 
Müller: Wenn jemand mit einer kreativen Spendenidee an mich herantritt, bin ich jedes Mal aufs Neue überrascht vom umfassenden persönlichen Engagement hier vor Ort.

Wie ist die Akzeptanz des Vereins in der Bevölkerung?

Müller: Mein Vorgänger als Vorstandsvorsitzender bei Hilfe für Nachbarn, Siegfried Wölki, hat am Beginn seiner Tätigkeit im Verein die folgende Wunschvorstellung geäußert: „Der Verein wird im Stadt- und Landkreis Coburg zu einer bekannten und anerkannten Einrichtung von der die Menschen sagen: Wir machen mit, denn es ist „Hilfe, die ankommt“. Das haben wir denke ich erreicht. Hilfe für Nachbarn Coburg e. V. leistet Hilfe, wo andere Sicherungssysteme – noch –  nicht greifen. Der Verein ist mittlerweile ein fester Bestandteil der sozialen Netzwerke in Coburg Stadt und Land. Das zeigt sich vor allem darin, dass sich mittlerweile viele Menschen direkt an uns wenden und nach Unterstützungsmöglichkeiten fragen.

 

Hat der Verein Verwaltungskosten?

Faber: Für alle, die unseren Verein unterstützen, ist es besonders wichtig, dass die Spendengelder vollständig für Hilfsleistungen zur Verfügung gestellt werden. Das ist dadurch sichergestellt, dass alle beteiligten Partner dieses Projekt von Anfang an ehrenamtlich begleiten.

Herr Müller, Siegfried Wölki war Gründungsvorsitzender, Sie sind sein Nachfolger geworden. Was war Ihr Beweggrund, dieses verantwortungsvolle Amt zu übernehmen?

Müller: Diese Frage ist einfach zu beantworten. Ich wurde bei Gründung des Vereins bereits zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Ich war und bin von der Idee zu Hilfe für Nachbarn begeistert. An der Verwirklichung dieser Idee mitzuwirken, macht mir große Freude!

Gibt es einen Fall, der Sie emotional besonders bewegt hat?

Müller: Das ist der Fall einer Rentnerin aus dem Coburger Land, die stark verwahrlost und unterernährt in ihrer Wohnung gefunden wurde. Nach dem Auffinden kümmerte sich eine Betreuerin um die Rentnerin; diese hat unverzüglich den Umzug in ein Pflegeheim in der Vestestadt veranlasst. Eine Aufstockung der Heimkosten erfolgte durch den Bezirk Oberfranken. Für das Wohnen im Heim benötigte die Rentnerin jedoch eine Grundausstattung in Form von Kleidung, Schuhen, Medikamenten und Körperpflegeartikel. Diese Grundausstattung wurde von Hilfe für Nachbarn übernommen und ein weiterer Grundbedarf durch eine weitere Zuwendung gedeckt.

Ist „Hilfe für Nachbarn“ auch künftig notwendig?

Faber:  Im sozialen Netz in Deutschland, das enger geknüpft wird,  wird es immer Löcher geben, um im Bild des Netzes zu bleiben. Wer staatliche Hilfen in Anspruch nehmen möchte, braucht Zeit und muss –  je nach Form der Hilfe –  ein mehr oder weniger aufwendiges Antragsverfahren durchlaufen. Das führt immer wieder zu Situationen, in denen die Hilfen zu spät ankommen oder sogar gänzlich verwehrt werden. Hier setzt ganz klar die Unterstützung durch unseren Verein an –  ohne komplizierte Formulare und langwierige Verfahren –  einfach, schnell und unbürokratisch.

Hat die Corona-Pandemie die Arbeit von „Hilfe für Nachbarn“ verändert?

Faber: 2020 war auch für unseren Verein ein besonderes Jahr. Der direkte Kontakt der Hilfsempfänger zu den Wohlfahrtsverbänden und Jugendämtern war durch den coronabedingten Lockdown über längere Zeit nicht möglich. Das erprobte, unbürokratische und unkomplizierte Verfahren zur Antragsstellung hat trotzdem passgenaue Hilfen zugelassen. So konnte vielfach auf den persönlichen Kontakt verzichtet werden, aber via Telefon, E-Mail oder per Post alles Notwendige erledigt werden. Erst im Sommer/Herbst 2020 konnte wieder eine Zunahme an persönlichen Kontakten verzeichnet werden. Die Bedarfe, so zeigte sich, waren oft genauso wie in den vielen Jahren zuvor. Manchmal jedoch verschärfte die Pandemie die Einzelsituation sogar noch, sodass die Hilfe umso notwendiger war.

Welche Ziele setzt sich „Hilfe für Nachbarn“ für die Zukunft?

Müller: Es zeigt sich, dass pandemiebedingt Familien in eine finanzielle Schieflage geraten, weil Kurzarbeit und der Verlust von Minijobs nicht ohne Auswirkungen bleiben können. Die betroffenen Familien waren bisher noch nie in einer solchen Situation und wissen daher möglicherweise nicht, dass wir in solchen Situationen Hilfe anbieten können. Es ist unser Ziel, diesen Familien unser Angebot nahezubringen. Bei Fragen rund um Unterstützungsleistungen von Hilfe für Nachbarn ist beispielsweise die Caritas unter der Telefonnummer 09561/814 411 oder die Diakonie unter 09561/79 90 500 erreichbar. So können gemeinsam mit dem Berater weitere Einzelheiten geklärt und das weitere Vorgehen besprochen werden. Das erfolgt – wie bisher – schnell und unbürokratisch!

 

Die Fragen stellte Wolfgang Braunschmidt
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